RE: Vor dem Anwesen - 3

Doch es tat sich nichts in dem prunktvollen Anwesen.
Keine Schritte waren zu hören.
Hinter Sirius raschelten ein paar aufgewühte Blätter über den weissen Kies.
Zwei Minuten vergingen, doch keine vereinsamte Xenya öffnete die schwere Eingangstür.
Kein Leandro Lear, der das Haus verwaltete.
Der Hausherr selbst galt seit Jahren als verschollen.
Wen also sollte Sirius hier empfangen?
Auf einmal war der Klang von gallopierenden Hufspuren zu vernehmen.
Ein stolzer, schwarz schimmernder Hengst eilte auf das Anwesen zu.
Darauf ritt eine Frau.
Ihre blasse Haut schimmerte wie an einem weissen Märchen-Wintermorgen.
Sie trug ein schwarzes Kleid mit langer Schleppe und einem silbern gestreiftem Mieder um die Taille.
Ihr schwarzes Haar hatte sie in kunstvollen Locken hochgesteckt.
Die Schritte des Pferdes verlangsamten.
Sie passierten das Tor und blieben kurz vor dem Anwesen stehen.
Xenya sprang herunter und landete auf beiden Füssen vor Finn.
Ruhig und mit anmutiger Eleganz musterte sie den Jungen.
Sie glaubte nicht, diesen hier jemals gesehen zu haben.
Doch sie war es sich gewohnt, dass hier nie jemand nach dem Hausherr fragte.
Also musste er wegen ihr hier sein.
Xenya vermutete in dem Jungen einen Boten der Adelsgesellschaft und sie nickte ihm knapp zu.
Darauf wartend, was er ihr zu sagen hatte.

Xenya hob in Folge eine Augenbraue.
Ein leichtes Schmunzeln entfuhr ihr über das Kompliment des Jungen.
Wies aussah, war der kleine Bote noch nicht allzu trainiert in seinen Manieren.
Die meisten Adeligen wären nicht amüsiert gewesen.
"Danke, junger Mann", sagte Xenya, die Finn leicht zulächelte.
Es erstaunte sie, als der Junge nach Leandro Lear fragte.
"Oh, Monsieur Lear?
Nein, tut mir leid, er lebt nicht hier."
Woher der Herr des jungen Botens wohl die Fehlinformation hatte?
Jeder wusste doch, dass Lear bei den Schattenvampiren lebte!
"Du kannst deinem Herrn ausrichten, dass Monsieur Lear zur Zeit auf Reisen ist.
Tatsächlich hatte ich das Vergnügen ihn letzte Woche auf dem Sommerball von Sir Androvski anzutreffen.
Ich gehe davon aus, dass er noch eine Weile in den Ländereien bleiben wird."

Er ist doch noch für dieses Haus verantwortlich?
Xenya hob die Augenbrauen.
Woher wusste der Junge das?
Sie sah Finn skeptisch entgegen.
Nun natürlich war sie hellhörig.
"Ich wüsste nicht, was einen einfachen Botenjungen all diese Fragen angingen.
Doch hilf mir auf die Sprünge, vielleicht tue ich dir unrecht.
In wessen Namen kommst du hierher?"

"Ich bin zufälligerweise die Herrin des Hauses", sagte Xenya, deren Hengst auf einmal ungeduldig zu wiehern begann.
Sie hielt ihn fest an der Leine und strich ihm kurz beruhigend einmal über die Nüstern.
Sie wandte sich dann wieder dem Jungen zu.
"Monsieur Lear ist schon lange nicht mehr für das Haus zuständig, er ist ein viel beschäftigter Mann.
Und da ich sowieso kaum Gäste im Anwesen erwarte und mein Gatte zur Zeit nicht hier ist, wäre es wohl zu viel verlangt, den Verwalter im Anwesen festzuhalten.
Es gibt wichtigere Dinge für Männer als eine gelangweilte Hausherrin an Ort zu beschäftigen."
Xenya blickte dem Jungen abwartend entgegen.
Erneut begann ihr Pferd zu wiehern.
"Falls der Brief oder die Pakete an mich oder meinen Gatten gerichtet sein sollten, dann kannst du sie mir übergeben.
Ansonsten solltest du deinen Herrn darauf aufmerksam machen, dass jeder weiss wo Monsieur Lears Adresse zu erreichen ist:
Nämlich in der Universität der Schattenvampire."

Aus Xenyas Auftreten oder ihrer Haltung konnte man nicht erkennen, wie sie sich fühlte.
Oder wie es ihr ging.
Womöglich schien sie sich selten einmal jemanden anzuvertrauen.
Sie nahm sich schliesslich aus ihrem Beutel einen Goldtaler und drückte ihn dann Finn lächelnd in die Hand.
"Hier, das ist für dich", sagte sie dann.
"Für deine Bemühungen."

Xenya erwiderte mit einem kurzen Kopfnicken.
Dann hob sie das Packet auf den Sattel ihres Pferdes und trat mit dem Hengst hinter das Anwesen zum Stall.
Hätte sie nur geahnt, wer dieser Junge gewesen war!
Doch Xenya hatte es nicht erraten.
Sie betrat ihr Anwesen schliesslich durch den Hintereingang und trat mit dem Paket über die mit Marmor versehenen Gängen.
Sie erreichte schliesslich einen grossen Salon, dessen grossen Fenster hinaus auf den Garten zeigte.
Xenya liess sich seufzend in ihr Meridienne fallen und widmete sich dann dem Paket.
Sie öffnete es schliesslich.

Xenya sortierte die Briefe und Päckchen.
Je mehr sie an den Anschriften las, desto neugieriger und aufgeregter wurde sie.
Letzten Endes bestand für sie kein Zweifel mehr: Dieses Paket stammte von Sirius.
Xenya sprang auf, liess alles links liegen und eilte zum Eingang des Anwesens.
Hoffentlich war der Bote noch da!
Vielleicht konnte er ihr sagen, wo Sirius war!
Sie öffnete die Tür und eilte hinaus auf den weissen Kies.
Mit pochendem Herzen sah sie sich um.