Andere Orte » Das Märchenschloss

Ein riesiger Raum. Ein riesiger, nahezu leerer Raum. Ein leerer, kalter, fast toter Raum, in dem man nicht sein will. Die Mitte zierten zwei Throne, die einige Meter auseinanderstanden. Die zwei Throne zierten zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten ...
Die Tore hatten sich geöffnet und Infecto war mit langsamen Schritten, die von den Wänden hallten, hineingetreten. Es dauerte eine lange Zeit, bis er sich den Thronen genähert hatte, und er brauchte die Zeit auch. Was sollte er sagen? Er wusste, er war hier richtig, wusste, jetzt würde es die Antwort auf all die Fragen in seinem Leben geben. Er wusste, dass den beiden Männer in den Thronen klar war, wer er war und dass sie ihn hatten töten wollen.
Die Geräusche verstummen, als er stehen blieb und ausdrucklos zu den Männern sah. Der rechte, alt, aber gepflegt, bewegte sich die ganze Zeit und hatte das freundliche Gesicht eines Reiseführers, der gerade neue Kunden kennenlernte. Der linke sah noch viel älter aus, doch er hatte keinen Gesichtsausdruck. Ohne eine Bewegung saß er in seinem Thron und starrte Infecto an. Sein langes, ungepflegtes Haar hing bis zu seinen Schultern herunter und seine Augen musterten immer nur Infecto.
Und er war es, der als erster Sprach, mit einer dunklen, leisen Stimme, die dennoch alles durchdrang und unmissverständlich klar machte, dass der König in seinem Thron präzise war ... und effizient.
"Iustus Fonce."
Zwei Worte waren es nur, die Infectos Fäuste ballen und ihn vor Wut erzittern ließen.
"Du bist gekommen."
Infecto, erstarrt, sah verhasst zu dem Mann zu seiner Linken, während der rechte auf einmal mit einer interessierten Stimme sprach, die ganz im Gegensatz zu der anderen stand - sie war hell, hoch und freundlich.
"Ich bin Arcadis und das hier ist mein lieber Bruder Janus."
Infecto starrte Janus an.
"Wer seit ihr?"
Es war Arcadis, der wieder sprach, während Janus reglos dasaß.
"Oh, wir sind Alles, und Nichts, Iustus. Man kennt uns nicht, und dennoch sind wir da."
Das war keine Antwort, mit der sich Infecto zufriedengeben würde. Lange war er still, musterte die beiden völlig gegensetzlichen Brüder und dachte nach. Schließlich sagte er nur ein Wort, das alles enthielt, was er wissen wollte, seine ganzen Fragen.
"Warum?"

Arcadis lächelte freundlich. "Fragen, Iustus, sind mächtige Waffen, die ...", doch er verstummte überrascht, als sein Bruder neben ihm mit einer Hand bedeutete, leise zu sein.
Wieder durchdrang die eisige, dunkle Stimme den Raum und machte ihn bedrohlicher, als er es sowieso war.
Janus sprach nur zwei Worte, nur ganz kurz.
"Antworten zerstören."
Infecto Zauberstab raste hoch. "Ich werde nicht länger auf Antworten warten!", schrie er, doch Janus zeigte keinerlei Regung, während sein Bruder auf etwas kindische Weise in seinem Thron zusammenzuckte. Janus wartete und lachte dann kalt. "Junge Menschen sind berechenbar", war alles, was er sagte.
Funken stoben aus Infectos Zauberstab. "Ich bin erwachsen, und nicht dumm."
Dieses mal trafen die Worte auf unbändiges Gelächter, das lange Zeit währte. Janus, als er endlich aufhörte, sprach amüsiert: "Erwachsen? Ich bin 846 Jahre alt und du Küken behauptest, du wärest erwachsen?" Wieder lachte er. "Wenn du Antworten willst, senke deinen Stab, du hirnloser Idiot, oder willst du mich töten? Wer erklärt dir dann, warum du in diesem Raum stehst?" Janus war nun wieder ernst, und mit unwiderlegbarer Logik hatte er Infectos Zorn in Grund und Boden geredet, der den Stab wie auf Befehl gen Boden richtete.
"Und nun frag."
Stille kehrte ein. Infecto dachte lange nach, denn er hatte das Gefühl, die richtigen Fragen stellen zu müssen.
"Was habt ihr mit meinen Eltern gemacht?"

Janus nickte kurz, woraufhin Arcadis anfing, zu reden:
"Diese Geschichte beginnt vor zweihundert Jahren, Iustus, und du bist der erste, dem wir sie erzählen."
Janus sah seinen Bruder kurz genervt an, als wäre das ein Seitenhieb gegen ihn gewesen.
"Weißt du, als brillanter Alchimist hat man es manchmal schwer, mein Lieber", seufzte Arcadis, als erzählte er hier von etwas Alltäglichem. "Nach der Entdeckung des ewigen Lebens waren mir und meinem Bruder endlose Möglichkeiten geboten. Überleg doch mal, wir überlebten jeden Menschen, solange man uns nicht tötete! Was für eine Macht ..."
Der Glanz eines jungen Alchmisten, der den Durchbruch schafft, trat in die gealterten Augen Arcadis', doch ihn verdrängte daraufhin Trauer. "Doch endloses Leben hat seine Schattenseiten. Es wurde langweilig, Iustus."
Infecto starrte mit geweiteten Augen auf Arcadis - hörte er denn richtig? Langweilig?
Arcadis nickte verständnisvoll. "Ich weiß, was du denkst. Aber ich spreche von echter Langeweile, Iustus - wenn du Jahrhunderte lang nur da sitzt und nichts zutun hast."
"Willst du dem Küken die Weltgeschichte erklären?", fragte Janus leise.
"Ich habe gewonnen, also lass mir den Spaß", gab der genervt zurück. "Mit dir lässts sich ja nicht reden, also muss ich mir eben Gesprächspartner suchen". Janus stöhnte und die zwei wirkten ganz kurz wie echte Brüder, die sich gegenseitig anzickten.
"Also mussten wir uns Beschäftigungen suchen, Iustus", fuhr Arcadis daraufhin fort. "Und dann hatte mein Bruder die Idee ... wie wäre es mit einem abgewandelteten Spiel des Lebens?"
Arcadis lächelte freundlich.
"Die Regeln waren einfach. Wir suchten uns einen neugeborenen Zauberer, der vielversprechend wirkte. Wir zerstörten sein Leben."
Infecto war unfähig, sich zu bewegen, hörte zu.
"Wir brachten ihn in Lebensgefahr, immer wieder, aber es kam immer auf ihn an, ob er starb. So gesehen wollten wir dich nicht töten, Iustus", erklärte Arcadis.
"Wir wollten."
"Es war alles ganz einfach. Ich setzte immer auf den Zauberer, mein lieber Bruder dagegen. Ich gewann, wenn der Zauberer uns fand und damit überlebte und Janus, wenn der Zauberer bei unseren ... Aufgaben starb oder sich selbst tötete."
Das war krank. Das war einfach nur krank und mit jeder Sekunde wollte Infecto seinen Zauberstab heben und die beiden Männer vor ihm umbringen, ihnen Schmerzen zufügen. Doch er hörte bloß zu.
"Fünf mal spielten wir, und fünf mal gewann mein Bruder", lächelte Arcadis.
"Fünf mal Selbstmord", fügte Janus leise hinzu, um auf seine hervorragende Bilanz hinzuweisen.
"Ja", seufzte Arcadis. "Und dabei war ich mir so sicher gewesen."
Sein Gesicht leuchtete auf.
"Und dann fand ich dich, Iustus."

"Ich fand dich, und ich war mir sicher, du bist es. Ich ging mit Janus die sechste Wette ein, mit dem gleichen Einsatz wie immer und er tat, was er zutun hatte. Er holte deine Eltern nach Australien, wo er sie vergessen ließ, wer sie waren und ließ Ben Norton verstoßen und dich bei seinen Eltern aufnehmen. Janus sorgte dafür, dass ihr auf die gleiche Schule gegangen seit und so war der Weg bereitet."
Arcadis sah mit Stolz erfüllt auf seinen Bruder. "Weißt du, Janus kann aus ganz wenig ganz viel machen. Seine Effizienz hat bisher immer gereicht, um unsere Objekte in den Selbstmord zu treiben - aber bei dir hat er versagt."
Janus Faust ballte sich unauffällig.
"Als wir Ben die Wahrheit mitteilten, dachten wir, das reicht. Doch du hast ihn getötet - und dabei war er ein guter Junge, Iust", sprach Arcadis tadelnd. "Also engagierte mein lieber Bruder fünf Männer, die dich letztlich doch in den Tod stürzen sollten - aber siehe da, du hast auch sie alle getötet. Und dabei waren das keine schlechten Menschen, nein, ganz und gar nicht!"
Wie über das Wetter sprach Arcadis, als wüsste er nicht, dass jedes Wort Infecto einen Stich ins Herz versetzte und Sams Töchter wieder vor seinem inneren Auge auftauchten.
"Tja, und als Janus wieder in seinen Plänen steckte - dieses mal wollte er das Mädchen, das du so gerne hast, umbringen lassen - da kam dieser Angriff auf die Zauberwelt! Wir waren überrascht, weißt du", lachte Arcadis freundlich auf. Zum ersten mal seit Minuten erfüllte Janus' Stimme wieder die Halle.
"Ich nehme an, so hast du uns gefunden, richtig?"
Infecto nickte, so gut er konnte.
"Ich wusste es. Aber selbst wir konnten nicht in unserem Unterschlupf bleiben - und ausgerechnet dann hat uns jemand gesehen und erkannt - nicht wahr?"
Wieder nickte Infecto und Janus schlug vor Wut auf seinen steinernen Thron, blieb aber leise.
"Tja, und dank dir habe ich endlich gewonnen, mein lieber Iustus", schloss Arcadis seine Erzählung mit einem hocherfreuten Lächeln auf seinem Gesicht. "Dadurch, dass du hier vor uns stehst, hast du mir den Sieg gebracht. Und jetzt sollst du miterleben, wie ich über meinen Bruder triumphiere. Meinen Gewinn bitte, Janus!", forderte Arcadis und die Freude schien grenzenlos bei ihm.
Mit versteinertem Blick holte Janus ganz langsam ein seidenes Päckchen aus seiner Tasche, machte es auf, und holte etwas rundes, kleines raus.
Infecto sah lange darauf, bis er endlich verstand was es war.
Janus übergab Arcadis den Wetteinsatz, den Gewinn dieser Wette, die Infectos Leben zerstört hatte. Er übergab ihm den kleinen, bronzenen Penny.

In Bruchteilen einer Sekunden peitschte Infectos Stab auf und zerstörte. Zerstörte alles, worauf er traf. Er stieß Risse in den Boden, demolierte die Wände, unkontrolliert ließ Infecto seiner Wut freien Lauf, ohne auf jemanden zu zielen. Mit einer lauten Explosion zersprang der steinerne Thron von Arcadis und dessen wuchtige, schwere Brocken trafen auf den alten Zauberer und er fiel sofort um.
Das nächste, was zu hören war, war der unbändige Schrei Janus', der nach außen hin von seinem Bruder genervt war, ihn aber mehr liebte als alles andere auf dieser Welt.
Und noch schneller, als Infecto hätte einen Schild aufbauen können, noch schneller, als der junge Mann hätte aus dem Weg gehen können, traf der Schmerz auf den Jungen. Er war überall, in seinem ganzen Körper, in jeder Faser seines Verstandes ... Schmerz, der nicht vorbeiging. Dann knallte Infecto plötzlich auf den Boden und es war vorbei.
In Sekunden hatte sich alles verändert, der gesamte Raum, die ganze Atmosphäre. Von ruhiger, brodelnder Wut erfüllt war die Halle gewesen, als Infecto sie betreten hatte und nun war es unkontrollierbarer Hass, der alles auseinandergefegt und Infecto und Arcadis zu Boden hatte gehen lassen.
Und als der Staub der Explosionen endlich auseinanderstob und eiserne Ruhe einkehrte, da stand Janus mit erhobenem Zauberstab vor seinem Thron.

"Du bist aus einem einzigen Grund noch nicht tot. Weil mein Bruder das so will."
Infectos Kopf dröhnte, während er versuchte, aufzustehen. Er sah zu Janus und erkannte, dass Arcadis auf den Beinen war - und sein freundliches Lächeln wieder aufgesetzt hatte.
"So ein Talent darf niemand töten", erklärte er die Worte seines Bruders. "Dieser Schlüssel", fuhr er forte und klaubte denselben aus seiner Tasche, "öffnet Safe 947 in Gringotts. Dort warten 10000 Galeonen auf dich. Nimm sie, verlasse uns und baue dir ein Leben auf. Dein Leid ist nun vorbei."
Infectos rechtes Knie zitterte und schmerzte und eine Rippe auf der linken Seite schien gebrochen, denn stechender Schmerz überwand ihn, als er versuchte, aufzustehen. Mit Willenskraft schaffte er es dennoch, doch er konnte kaum klar reden.
"Ihr habt mein Leben für einen Penny verkauft. Niemand kann das rückgängig machen. Mein Leid wird niemals vorbei sein."
"Wunden heilen", antwortete Arcadis sogleich. "Du hast die Kraft zu lieben und mit deiner Freundin wirst du irgendwann alles vergessen."
Infecto schüttelte den Kopf, was seine Sicht benebelte. Beinahe gaben seine Beine nach.
"Niemals. Niemals werde ich vergessen, dass meine Eltern und mein bester Freund mir wegen einer sinnlosen Wette genommen wurden."
Janus hatte dem zugehört, doch nun war genug.
"Du hast die verdammte Chance, dieses Schloss mit dem Geld zu verlassen!" Die Worte hallten noch lange hinterher.
Infecto sah Janus lange an und lachte dann gurgelnd, obwohl der Schmerz sich meldete. Schließlich sagte er:
"Und ihr habt die Chance, dieses Schloss lebendig zu verlassen."
Janus ballte seine Hände zu Fäusten, sein Zauberstab schickte rote Funken in den Boden. Das Lächeln verschwand aus Arcadis Gesicht.
"Du wirst sterben", fauchte Janus.
"Davor töte ich dich."
"Und wer kümmert sich dann um dein Mädchen? Wer kümmert sich um Roxana?"
Das saß. Janus hatte einen wunden Punkt getroffen. Infecto durfte nicht sterben. Er konnte nicht. Er hatte versprochen, zurückzukehren. Er musste sichergehen, Janus Tod zu überleben.
Keiner sagte mehr etwas. Alle drei waren angespannt, selbst Arcadis hatte seine fröhliche Art abgelegt und beobachtete schweigend, wie Infecto rückwärts aus der Halle lief, sich immer noch die gebrochene Rippe haltend.
Keiner hielt ihn auf, doch jeder der drei wusste, dass das nicht das Ende war. Dass das Spiel erst begonnen hatte. Und dieses mal waren die zwei Brüder, die zwei Könige die Gejagten.

Mit einem ohrenbetäubenden Lärm zerriss der nächste Blitz die Stille, die über der Halle lag, in der Janus in seinem Thron saß. Der Regen war hier kaum hörbar und zu sehen sowieso nicht, schließlich war die Nacht angebrochen.
Arcadis war schon zu Bett gegangen, während Janus still über alles Mögliche sinnierte. Und so hörte er auch nicht, wie eines der Fenster der Halle aufsprang - ein weiterer Blitz übertönte das Geräusch. Und Janus bemerkte auch nicht, wie sich ein Mann durch die leere, dunkle Halle schlich, immer weiter zum Thron, und kurz davor fiel das Licht eines weiteren Blitzes auf eine schmale Klinge, die Infecto in seiner Hand hielt.
Der junge Mann erreichte den Thron, hielt das Messer an Janus' Kehle und als der erstarrte, flüsterte er schlicht: "Bezahl."
Und Infecto schnitt, führte das Messer von links nach rechts, um Janus zu töten, doch sobald er ihn berührt hatte, verschwand dessen Körper ins Nichts, löste sich auf, wie ein Schatten, ein Hologramm.

Licht.

Licht blendete Infecto und er taumelte zurück, als die Halle auf einmal zum Leben erweckt wurde. Janus und Arcadis, da standen sie, direkt in den großen Türen, und hinter Infecto, am Fenster, da waren Wachmänner.
Infectos Herz raste und er überlegte fieberhaft, wie er hier rauskonnte, während seine Augen sich immer noch nicht an das Licht gewöhnt hatten. Er hörte nicht mal Janus lachen, der langsam durch den Raum schritt.
"Ich wollte diesen Zauber schon immer mal ausprobieren", murmelte der Jahrhunderte alte Mann.
Und dann wusste Infecto, es gab kein Entkommen. Und zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er in so einer Situation Angst. Panische Angst. Er wusste, er würde gleich verlieren. Sterben.
Die Angst übermannte, lähmte ihn und er hörte nicht die Worte Janus', sah nicht den Strahl, der ihm in die Brust raste und merkte nicht, wie er nach hinten fiel und auf den harten, kalten Boden stieß. Und dann war es vorbei.

Das Dorf war weiß. Irgendwie verschwommen, der ganze Hintergrund verschwommen. Nur ein kleiner Platz in der Mitte davon war für Infecto scharf zu sehen, dort, wo er stand. Alle Kinder des Dorfes hatten den Neuankömmling umkreist und auch sie waren weiß, ihre Haare, ihre Kleidung, selbst ihre Augen.
Infecto verstand sie nicht, sie schienen eine andere Sprache zu reden, doch sie wurden immer lauter. Drängten sich um ihn, zogen ihn zu sich runter, und sie schrien, schrien immer lauter, bis Infecto der Schmerz in die Ohren stieg und er selbst um Hilfe schrie. Und dann, mit einem leisen Plopp, waren alle still, und die weißen Augen der Kinder füllten sich mit Blut, und es kam aus ihren Nasen, aus ihren Mündern, war überall. Die Hände der Biester zogen ihn in die Lache auf dem Boden, und dann schnappte er nach Luft, aber alles, was seine Lungen füllte, war das Blut der Kinder und er ertrank in ihm ...

Infecto schreckte hoch.
Er lag wohlbehütet in seinem Bett in einem Wald. Seine Gedanken wurden klarer und er verstand: er hatte geschlafen. Infecto versuchte, aufzustehen, aber merkte, dass Beine und Arme festgebunden waren an das Bett. Er rief um Hilfe, aber keiner kam. Dann schüttelte er das Bett hin und her, immer schneller, um sich von ihm zu lösen und mit einem lauten Krach fiel es zusammen mit Infecto auf die Seite, in die Walderde hinein. Und plötzlich spürte er sie. Ameisen, Tausende, Millionen von roten Ameisen, die aus dem Ameisenhügel schossen und auf ihn sprangen.
Sie fraßen ihn.
Sie nagten das Fleisch von ihm runter, waren überall, und Infecto schrie, und da krabbelten sie in seinen Mund und durchbohrten seine Zunge von allen Seiten ...

Infecto schreckte hoch.
Seine Gedanken wurden etwas schärfer und er verstand: er hatte die ganze Zeit über geschlafen und tat es jetzt noch.
Er sah sich um und merkte, dass er nun in einem dunklen Raum war. So lag er lange da und verstand nicht, was er hier tat.
Dann sprang das Licht an, und die riesige Säge, die von der Decke runterhing, fing an, sich zu drehen.
Und ohne, dass er hätte etwas tun können, schnitt sie ihm seinen rechten Fuß ab.
Infecto schrie wie nie zuvor in seinem Leben.
Als die Säge seinen rechten Unterschenkel entfernte, war ihm klar, er konnte diese Schmerzen nicht aushalten, aber es wurde schlimmer, als der Oberschenkel folgte.
Und plötzlich wurde ihm klar, was jetzt kommen würde, und er wehrte sich, versuchte es aufzuhalten, aber das Sägeblatt kam immer näher und dann, als es geschah, verlor er das Bewusstsein.

Infecto schreckte hoch.
Er war in einem weißen Raum, der nahezu leer war. Er erinnerte den jungen Mann an etwas ... auf jeden Fall aber wusste er, dass er niemals wirklich aufwachen würde. Und so wartete Infecto ab, was geschah.
Ein Mann betrat den Raum. Er hatte kein Gesicht und bevor Infecto ihn hätte um Hilfe bitten können, ging der Doktor an ihn ran und stieß zwei Finger in Infectos Augen. Sie gaben nach.

Infecto schreckte ein weiteres Mal hoch.
Jetzt wusste er, an was ihn der Raum erinnerte, der wiederum um ihn herum war. An Janus und Arcadis, und deren Schloss. Es war ein Raum aus deren Schloss.
Derselbe Mann ohne Gesicht betrat das Zimmer und wieder ging es zu schnell für Infecto. Er nahm den Fuß des jungen Mannes und brach ihm die große Zehe mit einem Ruck.
Der Schrei Infectos hallte von den weißen Wänden zurück.
Der Doktor verdrehte nun Infectos ganzes Bein so, dass es knackste, und wieder übermannte der Schmerz den Mann. Der gesichtslose Doktor machte weiter mit Infectos Armen und dem linken Bein, bis der Junge nur noch schrie und schrie und schrie ... und dann folgte schlicht und einfach das Genick.

Infecto schreckte hoch.
Nun verstand er. Die Träume würden nicht aufhören. Er lag in einem Raum im Märchenschloss und mit jedem weiteren Traum würde er mehr von der Foltermethode verstehen, die Janus und Arcadis sich für ihn ausgedacht hatten. Nur eins war ihm jetzt schon klar: er würde hier nie wieder rauskommen.
Der gesichtslose Doktor betrat den Raum.

"Wie lange?"
Wie beiläufig kam diese Frage, doch das brennende Interesse, das hinter ihr stand, war praktisch greifbar.
"Etwas mehr als drei Monate."
Janus drehte sich weg vom Fenster und sah in die lange, leere Halle, zu dem Thron von Arcadis, der wieder aufgebaut worden war.
"Stoßen wir an, Bruder, auf die Rettung der Zauberwelt." Arcadis lachte, doch Janus knirschte nur mit den Zähnen und sah wieder aus dem Fenster.
"Er will nicht."
"Was?" Arcadis leuchtende Miene sah auf, der alte Mann war bloß mit dem Sekt in seiner Hand beschäftigt.
"Er will nicht."
Arcadis sah sanft zu seinem Bruder und ebenso kamen die Worte aus seinem Mund: "Präzisiere, Bruder."
"Er müsste sich längst umgebracht haben. Aber er lebt. Durchlebt weiterhin die Albträume", erklärte Janus nach einiger Zeit unwillig und da huschte ein kleines Lächeln über Arcadis Lippen. Er liebte seinen Bruder, aber dass Iustus ihn selbst noch beschäftigte, als er wehrlos im Schlaf lag, das brachte Arcadis zum Schmunzeln.
"Wie sollte er sich umbringen, wenn er doch schläft?"
Janus atmete tief aus und antwortete daraufhin.
"In der ersten, längsten Phase, durchlebt man einen Albtraum nach dem anderen, und nach jedem weiteren werden die Sinne schärfer und man versteht, wo man ist. Er wusste irgendwann ganz genau, dass er sich in einem Raum in diesem Schloss befand, angekettet an ein Bett. Doch irgendwann kippt die Intelligenz, die Albträume greifen das Unterbewusstsein an, setzen sich wie ein Gift ins Gehirn und zerstören durch ihre schmerzliche Wirkung die Nervenbahnen. Das Opfer will aufhören zu denken und lässt es früher oder später zu. Nach und nach verliert es Sinnesorgane. Verlernt Sprechen, hört nichts, denkt nicht. Eine leere Hülle, ein Nichts. Doch die Albträume hören nicht auf, sie überfordern sein jetzt kaputtes Gehirn und er fühlt sich, als würde es platzen. Der Schmerz wird unaushaltbar und die Arme reagieren, schlagen auf ihren eigenen Körper ein, bis er nachgibt und das Opfer sich selbst umbringt. Das passiert normalerweise nach 30 Tagen. Nur bei ihm nicht. Nur bei ihm nicht ..."
Janus schloss und Stille hüllte diese schauderige Erzählung ein.
Sie währte lange, bis Arcadis irgendwann leise an seinen Bruder herantrat und ihm mit strahlender Miene ein Sektglas reichte.
"Stoßen wir an, Bruder."

Tick Tack, die Uhr tickte.
Es wurde es Zeit.
Jede Sekunde für Infecto konnte seine letzte sein.
Tick Tack, die Hintertür öffnete sich.
Roxana schnellte ihren blutenen Arm zurück und saugte sich den Rest vom Handgelenk ab.
Bis hierher hatte sie es geschafft.
Sie befand sich nun im Schloss.
Die Mara, umhüllt in schwarzem Umhang mit Kaputze, huschte die Treppe links von ihr hoch.
Es war unheimlich hier.
Still.
Zu still vielleicht.
Tick Tack, die Uhr tickte.
Nicht mehr viel Zeit...
Nicht mehr viel Zeit!
1. Stockwerk, drei Männer tauchten aus.
Sie alle trugen einen Anzug wie der Bodyguard damals bei ihr zu Haus.
Die Haare gegelt, hämisch grinsend und drohend kamen sie auf Roxana zu.
Soso, sie hatten also Besuch im Schloss.
Das würde ihrem Boss aber gar nicht gefallen.
Aber das war ja nur eine unerfahrene Jugendliche, eine Lachnummer!
Roxana holte tief Luft und bereitete sich vor auf den Kampf.
Der erste kam in gemässigtem Schritt auf sie zu und Roxana zückte ihren Zauberstab.
"Avada Kedavra!"
Der Bodyguard fiel tot um und die Männer blickten sich verdutzt an.
WAS zum-?
Na schön, sie hatten sie unterschätzt, doch von nun an ging es hart auf hart.
Von oben her hallten schnelle Schritte: Jetzt waren sie alle alarmiert.
Tick Tack, die Uhr tickte - und der Kampf begann.
Roxana rannte, sie kämpfte und wurde verfolgt.
Von oben kamen sie, von unten und von der Mitte her.
Woher musste sie nochmal? - Aja, drei Stockwerke hoch!
Sie verwandelte sich in eine Fledermaus und sauste an ihnen vorbei.
Sie wurde getroffen und fiel.
Dann richtete sie sich wieder auf, kämpfte - kämpfte so sehr sie konnte!
Sie tat es für ihn...
Sie tat es für Infecto.
Und jede Sekunde die verring betörten seine Sinne.
Zerstörten ihn Stück um Stück.
Sie musste zu ihm.
Sie musste jetzt gehn.
Jetzt gleich!
Sie flog erneut, um die Männer zu überlisten und sich Zeit zu verschaffen.
Erneut kam es zu kämpfen, sie wurde verletzt, aber machte weiter.
Schliesslich - endlich - als sie auf dem gewünschten Stockwerk ankam, eilte sie sofort nach links und öffnete die weisse Tür.
Sie hätte auch die rechte nehmen können, aber was sollte sie denn jetzt noch denken und überlegen?
Man musste handeln!
Drinnen angekommen schloss sie hinter sich sofort die Tür und lehnte sich erschöpft und schwer atmend dagegen.
Roxana blutete am Arm und sie hatte zwei Messer verloren.

[brillant]

Reines Weiß. Ein Zimmer, nicht sehr groß, und doch so unwirklich. Als ging hier alles zu Ende - oder begann.
Nicht mehr als ein kleines Zimmer, irgendwo auf der ganzen weiten Welt.
Es blendete sie, dieses Zimmer, in dem Wände, Decke und Boden aus weißem, glatten Material bestanden.
Es gab nur eine Einrichtung, nur eine einzige, in der Mitte, und der Blick fiel sofort dorthin.
Es war ein Lehnsessel, wie in einer Arztpraxis und er war horizontal eingestellt, damit man darauf schlafen konnte. Ein Mann lag auf ihm, reglos, bewusstlos, wie eine steinerne, bleiche Puppe. Viele viele dünne Fäden führten von der Mitte der Decke nach unten, zu dem Sessel, und man sah sie erst nicht, denn auch sie waren weiß. Weiß wie das Zimmer, weiß wie die Unschuld, bloß Gedanken. Gedanken, die bis zu dem Kopf des Mannes führten und in ihn reinstießen. Als war er durch Schnüre mit der Decke verbunden, wie eine Marionette.
Der ganze weite Weg, den Roxana in ihrem Leben gegangen war, wie unwirklich schien er doch in dem Moment, als die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte und der Schall verdumpft war. Als Ruhe eingetreten war und sie sich im Raum des Schicksals befand, am Ende ihres Wegs, am Anfang ihres Wegs.
Atmete der Mann? Nichts deutete daraufhin.
Schlief er bloß? Keine Anzeichen für irgendwas.
Hier war er, der Raum des Todes und des Lebens, der Schluss allen Seins, die hölzerne Truhe zum absoluten Nichts.
Hier war es, das Schicksal jedes Menschen, der diesen Raum betrat, gefangen, wo die Welt ruhte.
Hier war sie, die Liebe, wie ein Band, das niemals zerreißt, eingeschlossen, wo alles endete.

[omG du bist ein genie!]

Roxanas Brustkorb hob und senkte sich.
Vor Aufregung.
Vor Angstrengung.
Vor Angst.
Vor ihr war ein Ort...so rein...so bedeutend wie nirgendswo sonst.
Diese Reinheit, das Weiss...es blendete sie!
Es war so mächtig und so kraftvoll, als stünde lebendig der Tod vor ihr.
Was war das hier?
War sie noch am Leben?
Wer war dieser Mann?
Was tat er da - schlief er?
Wie er so dalag...das wollte sie auch.
Ja...
Liegen.
Einfach liegen.
In diesem Raum.
Und auf einmal schien alles unbedeutend zu sein.
Die vielen Bodyguards draussen - ach, was kümmerten sie die?
Und Infecto...achja, Infecto.
Der wartete auch.
Jede Sekunde und so...
Und so...
Aber dieser Raum hier, nur um das zu sehn, dafür lohnte es sich zu leben!
Das hier war viel wichtiger als alles andere sonst!
Was hatte sie bisher alles getan in ihrem jungen 50 Jahren?
Hatte sie ein solches reines weiss jemals gesehn?
Hatte sie solch eine ehrfurcht jemals gespührt?
Hatte sie die Welt jemals so sehr verstanden wie heute?
Nein.
Die Welt war vergänglich.
Alles war eitel...
Aber das hier...das hier war so unendlich und weit, sie wollte am liebsten tot umfallen jetzt gleich.
Wie hypnotisiert steuerte die Mara auf den Mann in dem Sessel zu.

Als Roxana ihren ersten Schritt tat, den ersten Schritt mit dem Ziel, den Mann anzusehen, da regten sich die Gedankenfäden, die sich bis nach oben zogen. Sie fingen an zu pulsieren, und als die Mara einen weiteren Schritt vorausging, da wurden sie noch schneller, und wie im Zick-Zack liefen sie zwischen der Decke und dem Kopf des Mannes hin und her, immer schneller und schneller, und dann, als Roxana den Sessel umrundete und den Mann erblickte und Infecto erkannte, in diesem Moment verpuffte die elektrisierende Wirkung der Fäden und ganz fein, ganz normal, schwebten sie wieder in der Luft.
Er war es, der da lag, Infecto, und er war ruhig, seelenruhig. Doch aus der Nähe, aus der Nähe war ein kleines Detail erkennbar, das von der Tür aus nicht auffallen konnte.
Roxana sah, wie sein Brustkorb sich ganz sanft hob und wieder senkte, im Takt, immer und immer wieder.
Der Mann atmete.
Bis heute noch.

Roxanas Augen weiteten sich, als sie Infecto erkannte.
Mein Gott!
Sie fasste sich mit der Hand an den Mund, damit sie nicht aufschrie.
Keinen Mucks wollte sie von sich geben.
Infecto...
Infecto...
Sie biss sich auf die Lippen und eine stumme Träne kullerte ihrer Wange entlang.
Was haben sie dir angetan?
Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, doch wagte nicht, ihn zu berühren.
Er atmete.
Gut!
Aber nun?
Was sollte sie tun?
Was konnte sie tun?

Es waren Augenblicke der vollkommenen Stille, die hier vergingen.
Während Infecto so dalag. Während Roxana nachdachte.
Nachdachte, ohne ihn zu berühren. Und die Sekunden zogen sich dahin und alles versank im dumpfen Nebel.
Sollte sie ihn aus dem Schlaf reißen? Musste sie es tun? Würde er durch Worte aufwachen?
So seelenruhig ...
Bum.
Wie tausende Splitter, wie eine Explosion bohrte sich der Ton in den Raum und zerdrückte die Stille, die Besonnenheit binnen Augenblicken.
Bum.
Ein weiteres mal wurde von außen auf die weiße Tür eingeschlagen, um sie zu durchbrechen, zu Roxana zu gelangen.
Die Gedanken pulsierten, einer nach dem anderen zersprang, denn die Vibration ließ sie zerreißen, und mit jedem weiteren Faden, der ins Nichts verschwand, wurde Infecto wacher.
Bum.
Aber wurde er das? Er wackelte, der Mann stöhnte ganz leise und schüttelte sich mitsamt dem Sessel hin und her. Es war unverkennbar, was geschah.
Er öffnete seine Augen nicht, doch immer verzweifelter und lauter drangen die Geräusche aus seinem Mund, und immer mehr winselte er unter dem Druck, der sein Gehirn zu zerdrücken schien, den nur er spürte.
Bum.
Die ganze Magie des Raumes war geschwunden, er war ein normales, ein irdisches Zimmer geworden, wie elektrisiert durch den Schall, der nach innen drang aber nicht raus konnte und alles unter sich begrub, alles, was dieses Zimmer bot.
Und Infecto schüttelte sich und die letzten wenigen Gedanken waren in Bewegung, vibrierten, würden zerreißen und der Mann spürte das, spürte die baldige Erlösung und zitterte.
Dann glitt er langsam hinab in den Tod.