Andere Orte » Apartment [Hong Kong]

Lu stand an einem der großen Fenster, hielt die Arme verschränkt und folgte dem Landen eines Flugzeuges.
Zwischen seinen Lippen hüpfte aufmerksam ein Streichholz auf und ab, wobei er scheinbar dem Ticken der Wanduhr im Takt folgen wollte.
Als würde das Rauschen nicht aus seiner Wohnung kommen, verschwendete der Chinese keinen Blick nach hinten zur Badezimmertür.
Kurz zuckten seine Lippen, er fuhr sich an die Stirn und stützte sich schließlich zu beiden Seiten neben dem Fenster ab.
Unten ging der unüberschaubare Straßenverkehr voran.
Trotz der leisen Musik, die plötzlich wieder einsetzte, schien ihm das Hupen der Autos von unten her viel realer.

Nach einiger Zeit tat sich hinter dem geräumigen Wohnzimmer die Badezimmertür auf und eine in ein Handtuch gehüllte Kira kam zum Vorschein.
Ein liebliches Lächeln zeichnete ihr kindliches Gesicht, während sie sich aufmerksam an den Türrahmen schmiegte.
Und das mit so viel Reiz, dass man fast hätte meinen können, sie würde ihrem Bruder gefallen wollen.
"Lu, Schätzchen. Was schaust du nur so ernst?", begann sie auch schon auf chinesisch, stieß sich in verführerischen Bewegungen von der Tür weg und lief weiter, wenn auch bedacht und eher schleichend wie eine Katze hinein in das Wohnzimmer.
Als sie bei ihrem Bruder ankam, schmiegte sie sich von hinten an Lu und strich ihm schweigsam an den Armen entlang.
Doch Lu's Antwort darauf kam nur ganz kühl.
"Du tropfst den ganzen Boden voll. Zieh dir lieber was an."

Daraufhin drehte er sich zu ihr um und drückte sie etwas von sich weg.
"Nur weil ich dich da rausgeholt habe, musst du nicht sofort über mich herfallen", sagte er ihr und ging neben ihr vorbei.
Kiras bisher liebliche und erwartungsvolle Miene wurde auf der Stelle steinhart, als er es nicht mehr sehen konnte.
Ihr Blick ging hinaus, auf die Straßen Hong Kongs, während sie weiterhin tatsächlich den Boden zu ihren Füßen volltropfte.
Etwas kaltes machte sich in ihrem Gesicht breit, während sie sich schnell abwandte und wieder im Badezimmer verschwand.
Lu hatte mittlerweile auf dem hellen Sofa Platz genommen, hielt sein Telefon in der Hand und klopfte mit diesem sanft an seine Kniescheibe.
Ihm war nicht bewusst, was Kira jetzt als nächstes vorhatte.
Doch ihm war bewusst, dass sie wohl nicht mehr allzu lang in Hong Kong bleiben konnte, wenn ihr die Freiheit lieb war.

Kira stand vor ihrem Spiegel und trocknete sich die nassen Haare.
Ihre kalte Miene war noch immer steinhart, während sie schließlich fest nach einer Bürste griff und damit die langen Strähnen glättete.
Ebenso wie ihrem Bruder gingen ihr diegleichen Gedanken durch den Kopf, bis sie von ihrem Haupt abließ.
Sie zog sich die Sachen über, die Lu Kira bereitgelegt hatte und schließlich legte sie auch noch die Kette ihres Vaters um.
Ihm allein hatte sie das zu verdanken. Und sie fühlte stolz für ihn.
Kira trat aus dem Bad heraus und lief sogleich in die angrenzende, große Küche, wo sie sich einen Drink eingoss.
Plötzlich kam ihr Bi in den Kopf.
Diese miese Schlampe...
Kiras Augenbrauen zogen sich sichtlich zusammen.
Ja, jetzt hatte sie ein weiteres Ziel gefunden.
Sie würde sich dieses Miststück ein für alle Mal schnappen und zur Strecken bringen, wie sie es verdient hatte.

Lu indessen beobachtete sie ruhig dabei, nahm schließlich das Telefon wieder zur Hand und wählte eine Nummer.
Er wartete ab und ließ es läuten.
"Wang", kam es von anderen Ende der Leitung und Lu's Antwort kam sogleich auf chinesisch.
"Jah, hier auch Wang. Louis, wie geht's dir?"
"Lu...?", eine Stille folgte, wobei Lu die Arme etwas veschränkte.
"Lu. Schön, von dir zu hören."
"Geht mir auch so. Wo bist du gerade, Cousin?"

Kira hatte sich mittlerweile aufreizend an die Theke gelehnt, während sie das Glas in der Hand hin und her schwang und dabei aufrichtig in die Richtung ihres Bruders blickte. Aber ihre Miene verriet nichts.
Nichts davon, was sie davon hielt, dass er bei Louis anrief.
Nichts davon, was sie davon hielt, vorläufig hier zu sein.
Nichts davon, was sie davon hielt, dass er sie aus dieser Haft befreit hatte.
Unbeteiligt trank die Chinesin einen Schluck ihres Whiskeys.

"Jah...ja, genau. Dann sehen wir uns bald. Mach's gut."
Lu legte auf, schmiss das Telefon unachtsam auf die Couch und erhob sich.
Er betrachtete Kira einen Moment, doch dann wank er sie zu sich heran.
Diese folgte seiner Aufforderung höhnisch lächelnd und abermals schleichend wie eine Katze.
"So, sag mir jetzt endlich, was du vorhast."
"Ich werde...nach England gehen, denke ich."
"Nach England?", hob er ungläubig eine Augenbraue. Was wollte sie denn bitte dort?
"Nach Enland", wiederholte die junge Frau bestimmt, nahm die Bänder seines Pullis zwischen die Hände und zog ihn sanft damit zu sich.
"Wirst du bleiben oder mit mir gehen?"
Lu verstand den Sinn darin zwar nicht, aber er schob seine Schwester zur Seite und holte sich seine Jacke.

Kira stemmte die Hände in die Hüften, als er sie mal wieder von sich schob und verdrehte innerlich die Augen.
Auch einen Moment lang über sich. Ätzend, wie sehr sie wohl unter Entzug stehen musste, dass sie sich sogar an ihren Bruder ranschmiss.
Aber das wollte sie schnellstmöglich ändern. Und daher konnte es ihr gar nicht schnell genug gehen, nach England zu kommen.
Irgendeiner dieser europäischen Idioten musste doch für wenigstens eine Nacht ausreichend sein.
Sie richtete sich die Haare und schlich an Lu vorbei, auf den Gang.
"Wohin gehst du?"
"Du wolltest doch nach England, oder nicht?"
"Jah...und du?", fragte sie zwar nicht zögernd, aber verständnislos.
"Ich werde nach Schottland zu Louis gehen. Er hat mich gebeten zu kommen und...", Lu drehte sich zu seiner Schwester, während er aufmerksam den Kragen seiner Jacke richtete.
"...du machst besser keinen Ärger. Sonst sitzt du schneller wieder hinter Gittern, als dir lieb ist."
Seine Stimme klang ermahnend.
Schließlich wollte er sie nicht für umsonst dort rausgeholt haben.
Lu folgte ihr auf den Gang, stellte sich hinter Kira und blickte sie durch den Spiegel, vor dem sie inne gehalten hatte, an.
"Gerade in England solltest du Acht geben. Schon mal was vom Dreamteam gehört? Die machen dich kalt..."
Lu grinste scherzhaft und genoss ihren fragenden Blick.
Schließlich gingen sie.

Schottland