RE: Haus von Frau Leni - 10

Eden ließ sich das nicht zweimal sagen, ging hinter den Schreibtisch und zog den Stuhl etwas hervor, worauf sie sich niederließ.
Aber worüber jetzt reden? Gestern abend war das alles so einfach gewesen, so hatte es zumindest ihrer Meinung nach geschiehnen.
Da waren ihr die Fragen einfach ungeniert aus dem Mund gekrochen.
Aber jetzt sah das ganze schon anders aus.
Vor allem, weil sie ihn lieber auf andere Gedanken bringen wollte, als ihn so zu sehen.
"Schon komisch, wenn man müde ist, aber nicht schlafen kann", murmelte sie plötzlich unerwartet und blickte auf ihre Hände hinab.
"Mir ging es heute Nacht nicht anders."
Edens Blick ging etwas durch den Raum, bis er wieder an ihm hängenblieb.
Und während sie ihn so betrachtete, musste sie tatsächlich noch einmal lächeln.
Gestern noch hatte sie sich lauthals bekriegt und er hatte ihr sogar aufgebracht den Mund verboten und nun saßen sie hier.

Cheung erstaunte das.
Sie hatte nicht schlafen können?
Weshalb nicht?
"Ich bin gestern zurück ins Pub", erzählte er ihr.
"Und habe mich um den Schaden gekümmert, den ich und dieser Typ dort angerichtet haben. Schlafen hätte ich auch nicht können. Nicht nachdem."
Er schüttelte den Kopf und rieb sich kurz die Nase.

Nicht nachdem? Nachdem was?
Nach dem dem Wiederbesuch im Pub? Nach dem Kuss? Nach dem Abend? Den Tag?
Eden blickte wieder auf ihre Hände hinab und fand, dass es gut war, wenn sie mit offenen Karten spielte.
"Wegen dem Kuss habe ich nicht schlafen können", sagte sie. "Wegen dem ganzen gestrigen Tag."
Wahrscheinlich hörte sich das für ihn jetzt kindisch an, ja. Aber was sollte sie machen? Das war die Wahrheit.

"Für dich war es falsch mich zu küssen, nicht wahr?"
Er blickte leicht ernstlich zu ihr.
Ja, das wollte er jetzt einmal klar gestellt haben.
Nicht, dass sie da aneinander vorbei redeten.
Und wenn sie das die halbe Nacht geraubt hatte, so war es erst recht wichtig, dass einmal zu klären.
"Du hast es bestimmt nur aus Mitleid getan, ich verstehe. Aber ist okay...für mich war es...ist es...in Ordnung."

Eden war erstaunt!
Völlig perplex, dass er das von ihr dachte, wurden ihre Augen ein wenig größer.
Ihr Mund formte einige Worte, aber kein Laut verließ ihre Lippen.
Er dachte ja in eine vollkommen falsche Richtung!
Sie blinzelte dann und blickte zur Seite.
"Fan das...", sie schüttelte den Kopf, weil sie nicht die richtigen Worte fand.
"Ich küsse niemanden aus Mitleid. Und natürlich hast du mir leid getan, das will ich auch nicht abstreiten. Aber...nein. Im Gegenteil, ich bin die ganze Nacht wachgewesen, weil ich micht nicht entscheiden konnte, ob ich richtig gehandelt habe. Heute weiß ich, dass ich nicht einfach hätte gehen dürfen."

Cheung runzelte die Stirn.
Was erzählte sie da?
Das sie nicht hätte gehn dürfen?
Er beugte sich nun etwas nach vorne zu ihr und war irritiert.
Doch sie war doch schnell davon geeilt.
Einfach so.
Für ihn war der Fall klar gewesen und nun kam sie mit dieser Seltsamen Ansicht.
"Ich verstehe nicht."

Eden blickte zu Boden.
Hach, was für eine Situation, wirklich! Wie sollte sie das erklären?
Aber eigentlich lag es ja auch auf der Hand und daher wollte sie es versuchen.
"Wie du aus meiner Geschichte heraus sicher entnommen hast, bin ich bisher nicht sonderlich gut auf Männer zu sprechen gewesen. Aber dieser Moment hat mir gut getan. Verdammt! Ich küsse sonst niemanden einfach so. Früher ist das ja in erster Linie andersherum gewesen. Aber das war was anderes, Fan..."
Ihre Augen glitzterten etwas. Aber nicht, weil sie den Tränen nahe war oder dergleichen, sondern weil es ihr viel Mühe kostete, sich das vor allem selbst einzugestehen.
"Ich war so verwirrt und mit mir selbst unzufrieden. Ich wusste nicht, ob es richtig war. Jetzt allerdings...jetzt weiß ich es."

Cheung schwieg.
Er blickte zu ihr - entgeistert.
Aber nicht, weil ihm das ganze etwas ausmachte, nein, sondern, weil er das nicht so geplant hatte!
Nein.
Was sie ihm da sagte, war sozusagen eine Bestätigung dafür, dass es gut war.
Das...es weitergehn konnte.
Mit ihnen.
Zumindest mit diesem Kuss.
Doch das hatte er nicht gewollt.
Er hatte nicht gewollt, dass jemand so etwas aussprechen würde, jemals.
Sowas brachte nur falsche Gedanken...falsche Vorstellungen und enttäuschte.
Auf beiden Seiten.
Was, wenn-
Stopp!
Die Dinge ruhig angehn.
Noch war nichts geschehn.
Und auf beiden Seiten war es recht gewesen. Niemand stellte irgendwelche Anforderungen oder Verlangte etwas von der anderen Person.
Warum das ganze also nicht so hinnehmen, willig?
Sie hatten über Einsamkeit gesprochen, fein.
Sie beide waren einsam...er auf seine und sie auf die ihre Weise.
Schön.
Jetzt waren sie an einem Punkt, wo jeder wusste, wie der andere stand.
Der Kuss war also gerechtfertigt und auf beiden Seiten angenommen.
Wie weiter?
Was, wenn jemand verletzt würde?
Wenn jemand zu viel verlangte?
Diese Dinge kamen Cheung alle in den Kopf und es war sinnlos...genau deshalb fiel es ihm auch schwer, neue Bindungen einzugehn. Schon nur dieses Wort, Bindung...Beziehung, es passte ihm nicht.
Es kettete.
Kettete Menschen aneinander und verschmolz sie.
Ihre Sorgen und Probleme.
Und trotzdem wollte er sie jetzt nicht einfach gehn lassen, nein!
Jetzt wo sie es ihm gesagt hatte und sie von ihm auch wusste, was er fand...jetzt konnte das nicht einfach abgebrochen sein.
"Ich...verstehe", kam dann endlich seine Antwort und er nervte sich darüber, was er da sagte.
Er sollte etwas anständiges Antworten, etwas, das man nicht missverstehen konnte.
"Tja, und wie weiter?"
Na klasse, das konnte erst recht missverstanden werden.
"W- warte, versteh mich nicht falsch! Dann also...sind wir beide..."
Schuldlos?
Nein, dummes Wort.
Quitt?
Hatte er gestern schon gesagt.
Zufrieden?
Oh Gott!
"...haben wir das geklärt."

Eden blinzelte etwas und blickte zu ihm auf. Sie schwieg dann für sich und dachte darüber nach, was er da fragte bzw sagte.
Jah, sie hatten es wohl geklärt. Und damit...war es jetzt vorbei?
Und wenn ihr wissen wollt, was sie an der ganzen Sache am meisten hasste: dieses kleine Männchen im Kopf, das ihr immer wieder einredete, es zumindest versuchte, wie schön es doch wäre, wenn es damit nicht vorbei war.
Und hingegen rief da noch ein anderes Männchen, dass sie jetzt lieber wieder gehen sollte.
Und einverstanden war sie mit keinem von beidem.
Sie hatte keine Lust, sich darauf Hoffnungen zu machen, vielleicht bald nicht mehr einsam zu sein.
Hatte keine Lust, sich für irgendetwas vor sich selbst zu rechtfertigen.
Der Kuss war nur sehr kurz und leicht gewesen.
Was machte es schon aus?
Außer die Tatsache, dass er ihr insgeheim sehr gefallen hatte...
Zu wissen, dass Cheung auch anders konnte, wenn er wollte.
Und dass das auf beiden Seiten nicht erzwungen gewesen war.
So betrachtete sie den jungen Mann vor sich schweigend und lehnte sich auch etwas nach vorne zu ihm.
Tatsächlich, es war sehr kompliziert.
Und dann gingen ihr dieselben Gedanken durch den Kopf, wie auch schon ihm.
Was war, wenn sich nun jemand zu sehr etwas darauf einbildete? Verletzt wurde?
Aber wie darüber sprechen, ohne, dass es gleich so aussah, als wollte sie tatsächlich mehr?
Jedoch, fand sie keine Chance, zu leugnen, wie sehr sie sich von ihm anzogen fühlte.
Selbst wenn es nur auf körperlicher Ebene basierte.
Immerhin kannte sie sich ja auch erst ein paar Tage!
Eden seufzte und blickte direkt zu ihm auf.
"Nun, wir haben darüber gesprochen", erwiederte sie. Denn geklärt war das ganze ja damit nicht.
Schließlich wussten die beiden jetzt nur, dass es ihnen beiden gefallen hatte.
Ach, sie fühlte sich wie ein Teenager...
Aber einer, der sichtlich unruhig auf seinem Stuhl wurde.
Was sollte sie tun?
Gehen? Und ihn von nun an ignorieren? Sich auf ihn stürzen und über ihn herfallen oder lediglich abwarten?

Eine lange Stille folgte.
Ja, geklärt hatten sie es.
Schon so.
Das war richtig.
Schön.
Unten sang Frau Leni und ausser ihr und vielleicht dem eigenen Atem, war gerade wirklich nichts zu hören.
Denn Cheung war ratlos.
Uns sein Gegenüber schien es nun gerade auch zu sein.
Was sollte man jetzt tun?
Was nicht?
Vielleicht würde sie jeden Moment aufstehn und gehn.
Würde ihm das gefallen?
Würde er sie überhaupt gehn lassen?
Cheung wusste es nicht.
Wusste es wirklich, wirklich nicht.
Daher biss er sich leicht auf die Lippen und erneut hörte man Frau Leni singen.
Ein Zeichen dafür, dass sie wirklich etwas zu ruhig waren.

Die Stille machte Eden fast wahnsinnig!
Da saßen sie also, sprachlos und nicht wissend, wie fortzufahren war, in so einer Situation.
Aber die Hexe faste einen Entschluss. Egal, was danach kommen würde und was nicht, die Zeitpunkt war jetzt!
Genug geschwiegen und nichts getan. Jetzt musste gehandelt werden.
Und wie hatten sie nicht gestern so schön festgestellt? Aus vermeindlichen Fehlern lernte man.
Eden konnte nun nicht mehr an sich halten, stand sichtlich entschlossen auf, ging auf ihn zu, griff an den beiden Händen und zog ihn bedächtig zu sich auf.

Als Eden aufstand hatte Cheung aufmerksam zu ihr aufgesehn und mit dem Schlimmsten gerechnet.
Ja, ihm schien, dass sie jetzt ging, für sie ziemlich typisch und so machte er auch schon etwas demonstrativ seinen Mund auf, um ihr etwas hinterher zu rufen.
Aber Eden ging nicht zur Tür, sondern steuerte auf Cheung zu und zog ihn zu sich hoch.
Dieser liess es natürlich mit sich gesehen und stand nun hauteng an Eden, wobei er leicht aufkeuchte und nicht mehr konnte.
Der Mann war mit so viel Energie und Lust geladen, dass er sie packte und leidenschaftlich küsste.

Nachdem alles vorüber war, lagen Eden und Cheung zusammen im Bett.
Eden hatte noch immer ihren Kopf auf seine Brust gelegt und strich zärtlich darüber, wobei sie die Augen geschlossen hielt.
Ihr ging gerade so einiges durch den Kopf...viel unsinniges, aber auch bedeutendes.
Für sie bedeutendes.
Und dieser Augenblick...ja, der gehörte nur ihnen beiden.
Es war egal, was danach kam.
Egal, ob es wohlmöglich das einzige Mal gewesen war.
Sie fühlte sie einfach nur unendlich wohl und das ließ sie ihn auch spühren.
Und während die beiden so schwiegen, hob Eden auf einmal ihre Hand, nahm die seine in ihre und strich vorsichtig mit den Fingerspitzen daran entlang, während sie jede Kontur seiner Haut in sich aufnahm und sie leise vor sich hin lächelte.
Wie schön es doch, nicht einsam zu sein.
So hatte Eden das ganze wirklich noch nie betrachtet.
Im Grunde hatte sie es immer verdrängt...nicht wahrhaben gewollt, dass sie sich doch auch danach sehnte.
Und nun lag die Hexe hier zusammen mit einem Mann, bei dem sie gestern fast explodiert war.
Aber letztendlich war das alles ja egal.
Eden drehte ihren Kopf wieder zu ihm auf, um sein hübsches Gesicht zu betrachten, hielt aber immer noch seine Hand.
Nein, es sollte nicht vorrübergehen. Noch nicht jetzt.
Ihr Gesichtsausdruck war sichtlich warm, lächelnd und lieblich.

Cheung musterte Eden.
Musterte ihre Augen und ihr Gesicht.
Ihre Haut war weiss und sanft, ihre Haare schön und die Hände geschmeidig.
Ja, jetzt hatte er Zeit, diese zu betrachten, ausgiebig und unter anderem Vorwand.
Noch nicht lange ist es her, seit er sie zum ersten Mal beim Frühstücken gesehn hatte und nur flüchtig angesehn.
Erst jetzt begann ihn das Aussehn dieser Frau auch wirklich zu interessieren, anzusprechen und ihn zu beschäftigen.
Im friedlichen und zärtlichen beeinander liegen schweiften seine Augen abermals über ihren Körper und er schmiegte sich etwas mehr an sie.
Draussen begann es zu regnen und man konnte Wassertropfen gegen das Fenster klöpfeln hören.
Ein angenehmes Geräusch, gerade jetzt bei dieser Stille.
Und während er der Musik des Regens lauschte, kam Cheung immer ein wenig mehr in die Realität zurück.
Vorher noch im Rausch und dem halben Unterbewusstsein, spührte er jetzt immer deutlicher, dass sie über seine Hand strich und sie neben ihm lag.
Ein schönes Gefühl.
Nein, sie hatten nichts falsches gemacht.
Nur, es war seltsam...
Sie passten doch gar nicht zusammen.
Beides Sturköpfe auf ihre eigene Art und Weise.

Eden drückte seine Hand an sich und senkte abermals den Kopf, welchen sie nun genau neben dem seinen platzierte.
Draußen begann der Regen einzusetzen und sie lauschte still und stumm den melodisch klingenden Tropfen, die an der Fensterscheibe klopften. Die junge Frau schloss die Augen, drehte sich zur Seite und legte ihren Kopf lieblich an seinen Hals.
Sie schluckte etwas und wünschte sich, dass er sie nie wieder losließ.
Gleichzeitig aber hasste sie sich auch für dieses Gefühl der großen Zuneigung für ihn!
Immer mehr ging es ihr wie vor dem eben erlebten.
Hörte die beiden Männchen in ihrem Kopf streiten und versuchte vergebens, gegen sie anzukämpfen.
Sie wollte doch einfach nur noch still genießen!
Warum ließen sie sie nicht?
Leise war ein erschöpftes Seufzen von ihr zu hören.
Eines, dass aber auch nach viel mehr klang.
Zwar versuchte sie ihre Gedanken in diese Richtung zu unterdrücken, aber es fiel ihr sichtlich schwer.
Ob er sie wohl rausschmeißen würde?
Und wenn ja, wann?
Jetzt gleich? Erst in zwei Stunden?
Die junge Frau verzog den Mund dabei und kam nicht umhin, sich nun sanft etwas aufzurichten und sich ein klein wenig von ihm zu lösen.
Wenn er es wirklich vorhatte, sollte er es lieber sofort tun.
Dann wäre die Enttäuschung über sich selbst wohl nur halb so groß, sich wieder benutzt haben zu lassen.